Mittwoch, 12. Mai 2010

Uris Uhren gehen anders: Buchbesprechung



Heinrich Danioth: Betruf


Die Urner Uhren gehen anders
Modell einer traditionellen Welt?

Hierarchie
Anselm Zurfluh/Albrt Hauser; http://www.thesisverlag.ch/presse-uri.htm
12.5.10


"Es ist nicht verboten, die Gedanken in die Bergwelt schweifen zu lassen und sich der Ahnung hinzugeben, das Ur- und Inbild dieses kleinen Kreises sei in der Talgemeinschaft zu finden. Solch ungemein auf Sicherung des kleinen Menschenhäufleins bedachtes Fühlen müsse sich dort über Jahrhunderte genährt haben, dort wo der Einzelne ohnmächtig ist vor einer übermächtigen, kalten, grausamen Natur."
Karl Schmid schrieb diese Sätze in einer Studie über den kleinen Kreis. Anselm Zurfluh, der in Silenen beheimatete, in Frankreich lehrende Historiker, ist auf Grund des Quellenmaterials und einer reichhaltigen Literatur dieser Frage nachgegangen. Wie hat sich der kleine Kreis - gemeint ist hier Uri - unter Umständen und Verhältnissen, die sich seit dem 17. Jahrhundert veränderten, behaupten können? Gab es Dominanten, welche Leben und Existenz dieses Bergvolkes begrenzten und heute noch bestimmen?

Die Übermacht der Natur


Eine geographische Realität: Die Natur, das Klima, die Berge setzen, so wird im ersten Kapitel dargelegt, physische Grenzen. Steile Hänge - zum Wildheuen brauchte man seinerzeit zum Teil Steigeisen - erschweren und erschwerten die landwirtschaftliche Arbeit. Lange und schneereiche Winter bedrohten mit ihren Lawinen die Menschen und beeinflussten in nachteiliger Weise den Boden. Und nach den Schneeschmelzen kam es wiederholt zu grossen und verheerenden Überschwemmungen. Man denke an die Katastrophe vor wenigen Jahren. Zwar gibt es den Föhn, der unter anderem die Tiefebene von Altdorf erwärmt, aber im ganzen ist der Lebensraum knapp und die Natur feindselig.
Der Urner steht einem Raum gegenüber, den er nicht beherrscht. Um diese "überphysische Realität" auszudrücken, sprach er und spricht auch heute noch vom "Es". Das "Es" ist per definitionem etwas, das weder fassbar noch begreifbar ist. Schon Sigmund Freud hat vom "Es" gesprochen, und der Urner Arzt und Volkskundler Eduard Renner hat das Phänomen vor allem auch anhand der Urner Sagen exemplarisch beschrieben. Um sich gegen seine Übermacht abzuschotten und zu verteidigen, zieht der Mensch einen Schutzring, aus welchem die Macht des "Es" verbannt ist. So entsteht etwas wie ein heiliger Raum, in dem der Mensch dank gewissen Riten - man denke an den Betruf - dem "Es" Einhalt gebietet. Ein endgültiger Schutz freilich ist es, wie auch die Sagen lehren, keineswegs.
Was Herbert Lüthy in seinem Buch "Frankreichs Uhren gehen anders" ausgedrückt hat, könnte man teilweise auch auf die Urner übertragen. Auch die Urner Uhren gehen anders. Die Reformation hatte hier keine Chance, und die Französische Revolution bewirkte kaum eine Änderung der Grundeinstellung. Doch die Urner wussten sich auch zu behaupten. Im Zeitalter der Kutschen und des Säumerverkehrs profitierten sie vom Gotthardpass. Sie waren derart mit diesem Berg verbunden, dass eine Anpassung an neue Verhältnisse schwierig wurde. Der erste Zug wurde 1882 im ganzen Kanton Uri mit schwarzen Fahnen begrüsst.

Kinderreichtum

Einige demographische Komponenten: Weil eine Geburtenverhütung im grossen und ganzen fehlte, gelang es nicht, die Bevölkerungsdichte den Produktionsmöglichkeiten anzupassen. Das Volk verarmte, vor allem im 19. Jahrhundert, und hatte keine andere Wahl, als die von kantonsfremden Unternehmern eingeführte Industrialisierung anzunehmen. Doch Zusammenstösse zwischen der alten und der neün Welt waren fast programmiert. Aussenstehende bekunden Mühe, diese Mentalität zu begreifen. Ein Beispiel: Am Klausenpass verkauft ein kleines Mädchen Alpenrosen. Ein Automobilist steigt aus, um sie zu kaufen, aber er hat kein Kleingeld. Auch die Mutter, die an der Türschwelle des Hauses, umringt von einer grossen Kinderschar, erscheint, ist ausserstande, die kleine Note zu wechseln, denn Geld hat sie nicht. Der Autofahrer zu seiner Frau: Das ist das Resultat so vieler Kinder.
Tatsächlich, in Uri überliess man die Fortpflanzung dem natürlichen Zufall. Kinderzahl und Geburtenrate waren und sind höher als in andern Regionen. Allerdings nähert sich jetzt die Kinderzahl den Ziffern in andern Kantonen und Ländern. Aber die Geburtenrate ist immer noch höher als anderswo. Kinder zu haben, das war und ist etwas Schönes und Grosses, und es gehörte zur göttlichen Verantwortung. Auf der andern Seite war kinderlos zu sein ein Unglück. Die Wallfahrten von Ehepaaren ohne Kinder beweisen es deutlich. Doch die Urner praktizierten die Geburtenverhütung nicht deshalb nicht weil es an Mitteln fehlte, sondern weil sie dazu keine Beweggründe hatten. Sie wussten, dass Kinder mithelfen konnten, sie wussten aber auch, dass eine allzu grosse Kinderschar dem Wohlstand entgegenstand. Das hat denn auch prompt zur Auswanderung und zum Solddienst geführt.
Fast exotisch wirkt aus heutiger Sicht das "Himmeln". Es ist von einem aufgeklärten Reiseschriftsteller des 18. Jahrhunderts überliefert. Wenn Kinder krank wurden, hat man nicht immer die Hilfe der wenigen Arzte und Heilkundigen gesucht, sondern Messen lesen lassen, "auf dass sie bald sterben mögen". Und man vergoss, so der Aufklärer, keine Tränen: "Im Gegenteil, man freut sich, und es heisst: Du hast nun einen Engel im Himmel." Opfer einer Täuschung. Es ist vor allem falsch, das als Gefühllosigkeit zu deuten. Die Idee, so Zurfluh, dass ein totes Kind eine Wohltat sein könne, stammt im übrigen nicht von Pfarrherren und ist noch weniger die Einstellung eines unreflektierten Funktionalismus: "Es ist ganz einfach für die Bevölkerung eine geistige Hilfe, welche von der Kirche unterstützt und bejaht wurde."

Abhängigkeit

Dass auch in Uri die Heiratskreise klein waren, überrascht nicht. Ähnliche Feststellungen hat man auch in andern Kantonen - beispielsweise im Wallis - gemacht. Obwohl es nicht an Kontakten mit Fremden gefehlt hätte (Gotthardpass!), holten die Männer ihre Frauen fast immer im eigenen Dorf. So haben 70 Prozent der Familie Hänsler von Bürglen und Unterschächen zwischen 1920 und 1939 ihre Ehefrauen in einem Kreis von weniger als zwei Kilometern gesucht. Oft löste sich die Frage der Kindertauglichkeit einer Frau auf einfachste Weise. Führte der Kiltgang zu einer vorehelichen Empfängnis, sah man das keineswegs als Unglück an. Das Verhältnis wurde einfach durch die Heirat legalisiert. Die altüberlieferte Arbeitsteilung - der Mann arbeitet auf dem Feld und in der Werkstatt, und er arbeitet für die Politik, die Frau aber kümmert sich um die Kinder -, diese Arbeitsteilung wurde als natürlich und gottgegeben angesehen.
Die Untersuchung der ökonomischen Rahmenbedingungen (Landwirtschaft, Söldnerdienst, Transportdienst, Handwerk, Politik) ergibt für Zurfluh den Schluss, dass die Urner bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zum Teil von den Einkünften anderer lebten. Das wurde ihnen zum Verhängnis. Die Industrie und die Fabrikarbeit zu akzeptieren war ausserdem durch die Weltanschauung erschwert. Man wurde und wird ganz gern wohlhabend, ja reich. Gleichzeitig aber herrscht Misstrauen gegen spekulatives oder schnelles Verdienen. (Als Zurfluh sein Buch schrieb, gab es den Kings Club noch nicht. Erstaunlich ist es, dass sich so viele Urner beteiligten.)
Wie steht es mit der "Gleichheit" der Demokratie, den politischen Rechten? Antwort von Zurfluh: "In Uri hat jeder seinen gerechten Platz." Es gibt zwar ein Oben und Unten. Die Hierarchie wird keineswegs verurteilt oder abgelehnt. Wichtiger als diese Frage scheint die andere zu sein: Welcher Kirche und welcher Religion gehört man an? Nach wie vor ist die katholische Kirche mächtig und die Theologie für den Urner kein formelles Gedankengebäude. Des Urners Weltschau bleibt magisch, und man soll und kann auch das "Es" nicht aus der Welt schaffen. Hierin stimmen Volk und Kirche weitgehend überein. Das ist vielleicht ein Grund, weshalb es in Uri nur sehr wenige Hexenverfolgungen gab. Obwohl die Urner Gesellschaft in einem gewissen Sinn blockiert ist, kommt es nach Zurfluh zu keinen sichtbaren Zerreissproben. Die Urner Gesellschaft empfindet das, was anderswo als problematisch angesehen wird, als unproblematisch. In einem geschlossenen kulturellen System laufen alle Änderungen ohne allzu grosse Schwierigkeiten ab.
Kann, so fragt Zurfluh am Schluss seines Buches, das Urner Modell auf die Bergregionen der Schweiz übertragen werden? Ohne die Frage eindeutig zu beantworten, gibt Zurfluh doch eher zu erkennen, dass er diese Frage bejaht. Ob sich die traditionelle Welt in Uri selber zu behaupten vermag, wird die Zukunft lehren. Gewiss, es gibt zwei Pole, den Fortschritt einerseits und die Dauer anderseits. Es sind dies Pole, aber sie ergänzen sich und schliessen sich nicht aus. Welches Gewicht man diesen beiden Polen zumessen will, diese Frage mag jeder Leser für sich selbst entscheiden. Das Buch von Zurfluh kann ihm dabei helfen.

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